In aller Munde

© Rona Pondick, Courtesy die Künstlerin und Marc Straus, New York
Kunstmuseum Wolfsburg

Von Pieter Bruegel bis Cindy Sherman

Mund, Lippen, Zunge und Zähne, Sprache, Schmerz und Schrei, Essen, Schlingen, Speien und Spucken, Lust und Leidenschaft: Die Mundhöhle ist eine äußerst reizvolle Körperzone. So haben sich nicht nur seit jeher Naturwissenschaft und Medizin an der Erkundung der Mundhöhle abgearbeitet, sondern auch die Kunst und Kulturgeschichte – von der Antike bis zur Gegenwart. Diesen breit gefächerten motivgeschichtlichen Pfad verfolgt das Kunstmuseum Wolfsburg erstmals in Deutschland mit der Ausstellung In aller Munde, die rund um das Orale kreist.

Rona Pondick LITTLE BATHERS (DETAIL) 1990/91 Kunststoff, 500 Unikate je 6,35 x 12,06 x 10,16 cm Marc and Livia Straus Family Collection © Rona Pondick, Courtesy die Künstlerin und Marc Straus, New York

Ein Großteil der Mundhöhle entzieht sich dem menschlichen Blick. Sie ist das Tor zum Verborgenen, zum Körperinneren. Schon im Alten Testament fungieren Maul und Mund als feuerspeiender Höllenschlund, als Portal zum Ort der Verdammnis im Inneren der Welt. In der berühmten Versuchung des heiligen Antonius von Pieter Bruegel d. Ä. steigt die Hölle sogar in den Kopf. Bevölkert von allerlei Quälgeistern hat dieser „Höllenkopf“ Schule gemacht.

Der Mund und seine Höhle sind ein Transitraum, der den Weg von außen nach innen und von innen nach außen kontrolliert. Mona Hatoum dringt in die Tiefen dieses Raumes vor, in dem Nahrung einverleibt wird, während Geräusche, Sprache und Gesang veräußert werden. Unsichtbar, aber lebenswichtig nimmt der Atem beide Wege und wird erst greifbar, wenn Künstler wie Man Ray oder Anselmo Fox ihn in Seifen- oder Kaugummiblasen einschließen.

Zähne bestimmen unseren Lebenszyklus – vom ersten bis zum letzten Zahn. Zahnreliquien waren Teil profaner und sakraler Verehrungskulte. Die Schutzheilige der Zahnärzte, Apollonia, wird mit Zange und Zahn ab dem 14. Jahrhundert ein populäres Motiv, das selbst Andy Warhol 1984 aufnimmt. Das krude Wirken des Zahnbrechers, Zahnreißers oder Quacksalbers ist vor allem in der Genremalerei ab dem 16. und 17. Jahrhundert ein beliebtes Sujet, wie etwa bei Jan Steen oder David Teniers d. J.

Das Gebiss und die Zahnprothese gewinnen von Arman bis Mithu Sen im 20. Jahrhundert an künstlerischem Eigenwert. Gerade heute, in einer Zeit der permanenten Selbstdarstellung, sind Zähne der teuerste Schmuck direkt am Menschen: von strahlendem Weiß über Vergoldungen bis zu dem für die Hip-Hop-Kultur typischen „Grill“.

Aggressive Münder und Monstermäuler ziehen sich wie ein roter Faden durch die Kunstgeschichte und spiegeln die Urangst des Menschen, verschlungen zu werden. Der Kinderfresser holt die Unartigen, der Werwolf vergreift sich an allen, Saturn verspeist seinen Sohn, nur Jona wird vom großen Fisch verschluckt und wieder ausgespuckt. Der blutsaugende Biss ist die Kerntat des Vampirs, bis heute ein Leitmotiv in Literatur, Film und Kunst – verewigt im „Todesbiss“ Edvard Munchs.

Auf den Biss folgt das Geschmacksurteil. Gleich nach der Geburt beginnen wir, uns die Welt zu erschmecken. Essen und Trinken sind nicht nur Energie spendende Tätigkeiten, sondern auch Lusterfahrungen. Die Mundhöhle ist ein Ort sinnlicher und erotischer Genüsse, was insbesondere für den Kuss gilt, wie in Wolfgang Tillmans’ bekannter Fotografie The Cock (kiss) zu sehen ist. Noch direkteren Ausdruck und ironische Brechung findet die orale Libido in der berühmten mehrdeutigen Arbeit von Natalia LL oder den erotisch inszenierten Lippen der amerikanischen Künstlerin Marilyn Minter.

Im Gegensatz dazu sind Speien und Spuken mit Ekel verknüpft, obwohl Wasserspeier eine lange Bildtradition haben, an die Franz Erhard Walther in einem Selbstversuch anknüpft. Emotionen sowie Sprache und Schreie drücken sich im Bild indessen durch Mimik aus. In diesem Sinne prägten die Charakterköpfe von Franz Xaver Messerschmidt die Kunstgeschichte. Humor, Erotik, Genuss, Staunen, Ekel, Schaudern oder Freude, der eigens für In aller Munde entwickelte Ausstellungsparcours birgt für die Besucher*innen ein vielseitiges Erlebnisspektrum des Oralen. Neben Malerei, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Grafik, Installation und Videokunst stellen die Ausstellung und die begleitende Publikation Bezüge zu Ethnologie, Literatur, Film sowie Musik her und bieten Einblicke in die bis dato weitgehend unterschätzte Bedeutung der Mundhöhle für Kunst und Kultur.

In aller Munde. Das Orale in Kunst und Kultur, hg. von Uta Ruhkamp, Verlag Hatje Cantz, deutsche oder englische Ausgabe, ca. 350 Seiten, 350 Abbildungen, mit Texten von Andreas Beitin, Hartmut Böhme, Horst Bredekamp & Kolja Thurner, Roland Garve, Birte Hinrichsen, Olaf Knellessen, Harald Lemke, Karin Leonhard, Jürgen Müller, Uta Ruhkamp, Marcus Stiglegger und Ulrike Vedder.

Erhältlich für 45 € im Museumsshop oder unter kunstmuseum.de/shop.

In aller Munde wird kuratiert von Dr. Uta Ruhkamp und entsteht in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Hartmut Böhme und Beate Slominski.

recall® Das Praxisteam-Magazin immer mit dabei

Mit unserem E-Paper haben Sie die Möglichkeit alle Ausgaben kostenfrei mobil auf Ihrem Smartphone, Tablet oder Laptop zu lesen.

Recall Magazin