Mythen in der Zahnmedizin

OA Dr. Julian Schmoeckel
ZÄ Annina Vielhauer, Prof. Dr. Christian H. Splieth, OA Dr. Julian Schmoeckel

„Schlechte Zähne sind vererbt“ – Teil 1: Karies

„Bei mir in der Familie haben alle schlechte Zähne, da kann ich machen, was ich will.“ Diesen oder einen ähnlichen Satz hört man in der Zahnarztpraxis immer wieder. Viele Patienten schieben die Verantwortung für ihre „schlechten“ Zähne mit diesem Mythos weit von sich weg, in ein Gebiet, das man ja doch nicht beeinflussen kann. Insbesondere in der Kinderzahnarztpraxis hört man häufig auch Eltern sagen: „Ich habe schlechte Zähne und leider habe ich meinem Kind diese schlechten Zähne vererbt!“

Klar ist es bequemer, die Schuld anderswo als bei sich selbst zu suchen, doch wie viel ist wirklich dran an diesem Mythos? Dazu muss man zuallererst die Begrifflichkeit „schlechte Zähne“ dezidierter betrachten: Was genau ist gemeint mit den „schlechten Zähnen“?

In den folgenden Beiträgen sollen die Erkrankungen, die diesbezüglich die größte Rollen spielen, erläutert werden. Dazu gehören Karies (Teil 1), Parodontitis, die Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, aber auch seltene Erkrankungen wie die Amelogenesis imperfecta und die Dentinogenesis imperfecta (alle weiteren genannten in Teil 2).

Karies
In der Kinderzahnarztpraxis und auch bei jungen Erwachsenen handelt es sich in den allermeisten Fällen, wenn von „schlechten Zähnen“ die Rede ist, um das Problem Karies. Auch heute haben leider noch fast 50 Prozent der 6 bis 7-jährigen in Deutschland Karies im Milchgebiss.1,2 Im bleibenden Gebiss der 12-Jährigen sieht das allerdings viel besser aus, hier sind heutzutage knapp 81 Prozent auf Defektniveau kariesfrei, im Durchschnitt weist jedes Kind etwa 0,5 Zähne mit Karieserfahrung auf.1, 3 Seit 1994/95 ergibt sich bei 12-jährigen in Deutschland somit ein Kariesrückgang von circa 80 Prozent innerhalb von nur 20 Jahren! Wie sollte solch ein enormer Rückgang innerhalb einer Generation ohne umfangreiche Genmutationen oder -veränderungen möglich gewesen sein, wäre Karies tatsächlich rein genetisch bedingt?

Dass es einzelne vererbbare Faktoren gibt, die für die Kariesanfälligkeit eine Rolle spielen, ist schon seit längerem bekannt. So hätten vor allem Gene, die mit der Schmelzbildung, den Eigenschaften des Speichels, der Immunregulierung und Essensvorlieben zu tun hätten, Einfluss auf das Kariesrisiko.4 Inwieweit die genetische Komponente ausschlaggebend sein könnte,
wurde in zahlreichen Zwillingsstudien untersucht. Jedoch konnten diese keinen signifikanten Unterschied zwischen dem Kariesbefall von eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingspaaren feststellen.5,6 So wurde geschlussfolgert, dass es die Umweltfaktoren sind, die, verglichen mit genetischen Faktoren, einen größeren Einfluss auf das Kariesrisiko und die
Kariesentstehung haben müssen, wie dieser interessante Zwillingsfall zeigt (Abb. 1a und b).

 

Abb. 1a/b: Oberkieferansicht von zwei 3-jährigen eineiigen Zwillingsschwestern, die gemeinsam aufwachsen. Die Zwillingsschwester mit einigen kariösen Zähnen (ECC) trinke laut Angabe der Eltern regelmäßig Saftschorlen (a), die andere Zwillingsschwester mit den gesunden Milchzähnen nicht (b). Zudem berichten die Eltern, dass sich das Zähneputzen auch bei der einen Zwillingsschwester schwieriger gestalte (a) als bei der anderen Zwillingsschwester (b).

Wie kann das sein?
Karies ist ein multifaktorieller Prozess, das heißt es müssen mehrere  ungünstige Komponenten zusammen kommen, ehe es zur Entstehung von kariösen Defekten kommt. Die vier Hauptkomponenten in der Kariesätiologie sind der Wirt (Zähne), das Substrat (Zucker), die Mikroflora (Bakterien) und die Zeit.

Erst wenn lange genug Substrat vorhanden ist, aus dem Bakterien ungestört Säure produzieren können, kommt es zur Demineralisation am Zahn. Wird jedoch der kariogene Belag regelmäßig komplett entfernt und zusätzlich noch mit Hilfe von Fluorid die Remineralisation unterstützt, ist Karies allein durch richtiges Verhalten vermeidbar.

Wieso also korreliert dies trotzdem oft: Kariesbefall bei Eltern und Kindern? Wo doch die Studienlage zeigt, dass Umweltfaktoren die genetisch bedingten Faktoren überwiegen? Die Ursache liegt ganz einfach darin, dass wir von unseren Eltern nicht nur Gene erben, sondern auch oftmals (unbewusst) deren Verhaltensweisen imitieren und erlernen. Das betrifft in Bezug auf Karies nicht nur naheliegende Dinge wie unser Zahnputzverhalten (Wann putze ich?, Wie oft putze ich?, Wie lange putze ich?).7

Auch Ernährungsgewohnheiten und unser Gesundheitsbewusstsein übernehmen wir zuerst einmal von unserer Familie.8,9 Das heißt in unserer Kindheit übernehmen wir Großteils den Lebensstil der Eltern.10 Doch über welchen „Mechanismus“ und wie genau werden „schlechte Zähne“ nun von den Eltern an die Kinder weitergegeben („vererbt“)? Wissenschaftlich ist es klar belegt, dass Karies bei Kindern, die in bildungsfernen beziehungsweise einkommensschwachen Familien aufwachsen, weiter verbreitet ist. So sind im Jahr 2018 für Kinder von Eltern mit einem geringen Einkommen deutlich mehr Kosten für zahnärztliche Therapien entstanden als für Kinder von Eltern mit einem höheren Einkommen.2 Außerdem nimmt der Bildungsstatus der Eltern Einfluss auf den Karieszuwachs bei Kindern – ein höherer Bildungsstatus ist assoziiert mit einem niedrigeren Karieszuwachs.11 Auch bei Erwachsenen in Deutschland ist diese Korrelation deutlich und zeigt sich zum Beispiel in stark unterschiedlichen Zahlen der völligen Zahnlosigkeit je nach Sozialstatus.3

Soziale Nachteile und die jeweiligen Ressourcen eines Haushaltes beeinflussen den Gesundheits-Lifestyle von Kleinkindern – ein hoher sozioökonomischer Status ist assoziiert mit einem gesünderen Lebensstil.10 Außerdem wirken sich Gesundheitsrisiken wie zum Beispiel ungesunde Ernährung oder der Genuss von Nikotin im Lebensstil von Eltern auch auf den Lifestyle von Jugendlichen aus.12

Eine weitere wichtige Komponente stellt die Weitergabe der mütterlichen oralen Bakterienflora auf den Säugling dar. Die orale Bakterienflora eines Neugeborenen ist nicht kariogen. Streptokokkus mutans, Leitkeim der Karies, wird in der Regel von der Mutter auf das Kind übertragen, zum Beispiel über abgeleckte Beruhigungssauer oder Verwendung desselben Löffels.13 Die Besiedelung mit Mutansstreptokokken kann sogar schon beim zahnlosen Säugling beobachtet werden.14 Eine frühe Infektion ist einer der Hauptrisikofaktoren für Frühkindliche Karies und sollte daher so lange wie möglich hinausgezögert werden.15

Wie oben beschrieben, kann Karies erst durch die Zufuhr von Substraten – Zuckern – entstehen. Wie oft und in welchem Maße wir diese zu uns nehmen, wird ebenfalls stark familiär beeinflusst. Erste Geschmackspräferenzen bilden sich bereits im Mutterleib, da das Ungeborene über die Amnionflüssigkeit und postnatal über die Muttermilch Geschmacksstoffe aus der mütterlichen Ernährung aufnimmt.16 Später entscheiden Eltern zum einen aktiv, was in der Familie auf den Tisch kommt und gegessen wird, zum anderen dienen sie als Modell für die Nahrungsauswahl und Essgewohnheiten.8 Im Folgenden soll ein kurzer Literaturüberblick über die verschiedenen Aspekte der „Vererbung“ beziehungsweise Weitergabe von „schlechten Zähnen“ gegeben werden.

Sozioökonomischer Status

  • Geringes Einkommen assoziiert mit höheren Zahnbehandlungskosten bei Kindern2
  • Early Childhood Caries (ECC) tritt häufiger bei Kindern auf, die in Armut oder unter schlechten wirtschaftlichen Bedingungen leben17

Bildung

  • Kinder in Gymnasien weisen niedrigere Karieswerte auf als in anderen Schulformen1
  • Hoher Bildungsstand des Vaters (Hochschulabschluss) ist assoziiert mit niedrigerem Karieszuwachs11
  • Kinder von Eltern, die Analphabeten sind, weisen ein höheres Kariesrisiko auf18

Ernährungsgewohnheiten

  • Eltern formen Ernährungsgewohnheiten durch Anbieten bestimmter Nahrung und als Modell8
  • Snack-Limitierung durch die Eltern ist assoziiert mit geringerer Prävalenz von unbehandelter Karies19
  • nächtliches Füttern mit Nuckelflasche (und unregelmäßiges Putzen) ist assoziiert mit höherem Karieszuwachs20
  • Stillen länger als zwölf Monate sowie Gebrauch der Nuckelflasche im Bett ist assoziiert mit schwerer Early Childhood Caries (ECC)21

Lifestyle

  • potenziell gesundheitsschädigende Gewohnheiten von Eltern wirken sich auch auf den Lebensstil von Jugendlichen aus Mundgesundheitskompetenz
  • Mundgesundheitsverhalten der Eltern hat sowohl direkten Einfluss auf die gingivale Gesundheit und Karies des Kindes als auch indirekt durch die Beeinflussung des Mundgesundheitsverhalten des Kindes23
  • Mundhygieneverhalten der Eltern hat einen größeren Einfluss auf das Mundhygieneverhalten von Kindern als die Einstellung oder das Wissen der Eltern zur Mundgesundheit24
  • Mundgesundheitsverhalten der Eltern beeinflusst die orale Gesundheit ihrer Kinder; Gewohnheiten werden von den Eltern und speziell von der Mutter angenommen7

Bakterielle Flora

  • Übertragung von Mutansstreptokokken erfolgt meist über die Mutter13
  • frühe Infektion mit Mutansstreptokokken wichtiger Risikofaktor für Early Childhood Caries (ECC)15
  •  hohe Konzentrationen von Mutansstreptokokken im Speichel von Müttern stellen ein Risiko für eine frühe Infektion des Kindes dar25

Zahnarztangst

  • Zahnarztangst von Kindern korreliert mit vorhandener Zahnarztangst der Eltern und wird vor allem durch den Vater vermittelt26

Fazit
Die These „Bei mir in der Familie haben alle schlechte Zähne, da kann ich machen, was ich will.“ als Grund für Karies, die am häufigsten anzutreffende orale Erkrankung im Kindesalter, ist kaum haltbar, da Karies im Wesentlichen durch Verhaltensänderungen vermieden werden kann.

Allerdings scheint es oftmals „vererbt“, da unter anderem das sozio-ökonomische Umfeld (Eltern) eine wichtige und prägende Rolle in Bezug auf die Mundgesundheitskompetenz  (Gesundheitsbewusstsein, Putzverhalten, Ernährung, etc.) spielt. So haben Kinder von Eltern mit überdurchschnittlichen Karieswerten ein höheres Kariesrisiko und folglich auch häufiger
Karies. An den Genen liegt dies aber nicht.

Im nächsten Beitrag (Ausgabe 7&8-2020) werden weitere Zahnerkrankungen auf ihr Vererbungspotential hin beleuchtet werden.

Kontakt

Annina Vielhauer

Zahnärztin


ZZMK, Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde
Walther-Rathenau-Straße 42
17475 Greifswald

Prof. Dr. Christian H. Splieth

Zahnarzt


ZZMK, Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde
Walther-Rathenau-Straße 42
17475 Greifswald

OA Dr. Julian Schmoeckel

Zahnarzt


ZZMK, Abteilung für Präventive Zahnmedizin und Kinderzahnheilkunde
Walther-Rathenau-Straße 42
17475 Greifswald

Tel: +49 3834 86 71 36

Email: julian.schmoeckel@uni-greifswald.de

http://www.dental.uni-greifswald.de

weitere Beiträge aus diesem Fachbereich

recall® Das Praxisteam-Magazin immer mit dabei

Mit unserem E-Paper haben Sie die Möglichkeit alle Ausgaben kostenfrei mobil auf Ihrem Smartphone, Tablet oder Laptop zu lesen.

Recall Magazin