Lasst die Giraffe in die Zahnarztpraxis!

Jetzt nur nicht in Panik verfallen und in aller Hektik den nächsten Zoo informieren. Denn alles ist in bester Ordnung! Lasst euch auf dieses spezielle Gedankenexperiment ein, denn ihr werdet gleich feststellen: Giraffen sind wahre Lehrmeister, wenn es auf Aspekte des ausgewogenen Miteinanders ankommt – also überall, wo es schlichtweg menschelt. So wie in jeder Praxis. Im Fokus heute: unsere kleinen Patienten.

Giraffisch durch die Kinderbehandlung

1. Tierischer Perspektivwechsel
Wie erlebt wohl ein Kind die Räumlichkeiten beim Betreten der Praxis? Wie kann es gelingen, vom ersten Moment an den Kleinen das Gefühl zu geben willkommen zu sein? Ein hoher Tresen versperrt die Sicht, ein steriler langer weißer Flur und endlose Gänge können befremdlich wirken. Der lange und flexible Hals ermöglicht es der Giraffe die eigene Sichtweise zu verlassen, um einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Eine wichtige Eigenschaft, denn für die Kleinen kann der Zahnarztbesuch eine fremde, noch nicht berechenbare Situation darstellen. Mein Tipp: Das Kind direkt auf Augenhöhe ansprechen, statt nur die Kommunikation über die Eltern laufen lassen. Ein freundliches und kurzes„Hey, schön, dass du da bist, Max!“ als Kontaktaufnahme bewirkt bereits viel. Nun gilt es, die natürliche Neugier des Kindes aufrechtzuerhalten und auch den ängstlichen Sprösslingen Lust auf das zu machen, was in der Behandlung oder Prophylaxe auf sie zukommt.

2. Aufmerksam beobachten und zuhören
Von allen vierbeinigen Tieren in der Savanne kann die Giraffe am weitesten sehen. Mit ihren warmen rehbraunen Augen erfasst sie alles mit Interesse um sich herum, so als würde ihr nichts entgehen. Ihre bis zu 50 Zentimeter lange Zunge rupft geschickt Akazienblätter von den Bäumen. Unglaublich: Sie kann damit sogar ihre eigenen Ohren reinigen! Ihre Lauscher sind hochsensibel und in der Lage, im Infraschallbereich ihre tiefen Laute über weite Distanzen wahrzunehmen. Bleibt also empfangsbereit und schaut genau hin: Was verraten der Gesichtsausdruck und die Körpersprache eurer jungen Patienten? Was kann einem ängstlichen Kind zur Beruhigung helfen? Die Einigung auf ein Behandlungsstopp-Zeichen und das Erklären der einzelnen Schritte geben dem Kind Sicherheit und das Gefühl, im gewissen Maß Einfluss auf die Situation nehmen zu können. Gibt es etwas im äußeren Erscheinungsbild des Kindes, was euch direkt ins Auge springt – eine offensichtliche Leidenschaft oder ein Hobby, ein Armband oder ein bunter T-Shirt-Aufdruck mit dem Lieblingshelden? Mit etwas Kreativität kann vieles genutzt werden, um gleich zum relevanten Thema zu kommen: „Was meinst Du, wie sich wohl Spiderman die Zähne pflegt?“ oder „Elsa hat so schöne weiße Zähne. Lass uns gleich mal eine Elsa-Zahnputz-Übung machen!“

3. Anstupsen und den Forschergeist wecken
Wer schon mal die Gelegenheit hatte Giraffen live zu beobachten, konnte in einem günstigen Moment entdecken, wie sie ihre Jüngsten liebevoll neckisch anstupsen. So als wollten sie diese ermutigen, selbst auf Entdeckungstour zu gehen, um eigene Erfahrungen zu sammeln. “Probier mal aus was passiert, wenn du auf diesen Knopf hier drückst!“ und das Wasser plätschert fröhlich in den Becher. So kann auch der Behandlungsstuhl zu einem wahren Erlebnisparkour werden. „Wenn du an deinem Ohrläppchen ziehst, fährt der Stuhl nach hinten. Probier es mal aus!“ Der Knirps kommt in gute Stimmung und wird bereit sein, euren weiteren Anweisungen zu folgen.

4. Fantasievoll empathisch sein
Mit ihrem speziellen Aussehen hätte es die Giraffe wohl locker in die Riege der Fantasietiere geschafft. Eine weitere Besonderheit: ihr Herz zählt zu den größten unter allen Landtieren. So als wollte sie uns sagen: mit Empathie und Erfindergeist erfolgreich durch die  Kinderbehandlung. Selbst die langweiligsten Geräte können sich in aufregende Geschichten und Dinge verwandeln: Die Lampe wird zur Sonne, die Watterolle zum Zahnkissen, der Mundschutz zu einem orientalischen Schleier und der Mundstaubsauger sorgt für eine Wüste im Mund.

5. Verständnisvoll und lösungsorientiert bleiben
Das arabische Wort für Giraffe heißt ‘die Liebliche’. Der Name beschreibt sehr treffend ihr friedliches geselliges Gemüt. Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen und den einen oder anderen hilfreichen Tipp weiterzugeben, entspräche sicherlich ihrer Art. Ein Beispiel: Wenn die motorische Fähigkeit des Kindes (erst ab dem 8. Lebensjahr) noch nicht genügend ausgeprägt ist, braucht es die elterliche Unterstützung bei der täglichen Mundhygiene. Nun kommt es ganz darauf an, wie wir diese Botschaft übermitteln. Eine ‘giraffische’ Idee könnte lauten: „Hey, wenn du mit dem Putzen fertig bist, gehst du mit deiner Zahnbürste zu Mama, damit sie bei dir nachputzen kann, okay?“ So zeigen wir uns lösungsorientiert, statt den Druck an die Eltern in einem harten Ton weiterzugeben: „Sie müssen unbedingt nachputzen!“

Fazit – Giraffen sind praxiskompatibel
Um die kleinen Patienten gewissenhaft durch die Behandlung zu führen, hilft es – gleich einer Giraffe – den Überblick zu behalten und mit Herz das Wesentliche zu fokussieren: Was ist das genaue Ziel der Behandlung? An welche drei Punkte sollte sich der kleine Patient erinnern, wenn er im häuslichen Bad die Zähne pflegt? Welche Informationen benötigen die Eltern? Angepasst an das Alter und den jeweiligen  Reifegrad des Kindes sind wir mit den genannten ‘Giraffen-Tipps’ in der Lage zu überprüfen, ob wir gut auf Kurs sind mit unseren jungen Patienten. Kurz gesagt: Eine Giraffe passt in jede Praxis.

Warum und wie es Giraffe Roberta in mein Praxis-Leben geschafft hat, erfahrt ihr wenn ihr hier klickt.

Woher kommt eigentlich Roberta?

recall Frau Matysiak, mit Ihrem aktuellen Artikel „Lasst die Giraffe in die Zahnarztpraxis“ setzen Sie auf `tierische` Unterstützung in der Zahnarztpraxis. Worin liegt der Ursprung für diese ausgewöhnliche Idee?
Nadja Matysiak In den letzten Jahren hatte ich die wunderbare Chance, viele tolle Teams in Zahnarztpraxen, die sich für ein gutes Miteinander und einen stabilen Teamzusammenhalt stärken wollten, im Rahmen von Workshops und Inhouse-Schulungen zu begleiten.

Mit der Zeit bemerkte ich, dass bestimmte Themenschwerpunkte gehäuft auftraten und das unabhängig davon, ob es sich nun um eine kleine familiäre Praxis handelt oder um die große Praxisklinik. Dort wo Menschen zusammenkommen, gibt es keine reibungslose Kommunikation. Missverständnisse kosten Kraft und Zeit, die Stimmung rutscht in den Keller und im Allgemeinen ist dann das Betriebsklima stark belastet. Kurz gesagt: Es ‘menschelt’ eben überall.

Dabei kann der Teamgeist erst so richtig Fahrt aufnehmen, wenn alle sich in ihrer Verschiedenartigkeit kennen und annehmen lernen. Denn  mit Spaß und Leichtigkeit kommen wir so gut durch den Praxisalltag, und nach Feierabend stehen uns dann auch noch die nötigen  Energiereserven für unseren Freizeitausgleich zur Verfügung.

Ein Workshop kann sicherlich einiges in Gang setzen, doch nur wenn alle gemeinsam dranbleiben, wird dies langfristig positive Veränderungen nach sich ziehen. Aber mal ganz ehrlich: Wer macht das so konsequent? Wie oft verlassen wir selbst begeistert ein Seminar und wenige Tage später ist alles verpufft? Da braucht es schon mehr für einen nachhaltigen Effekt. Und genau hier setzt die Forschung an: So ist bekannt, dass klar verständliche Schlüsselreize einen wichtigen Beitrag in der Verankerung von Wissen leisten. Also etwas wie ein Symbol oder Zeichen, was mit einem Blick erfasst werden kann. Bezogen auf unser Thema etwas, das täglich an die wichtigsten Aspekte im gesunden Miteinander erinnert. Ein absoluter Hingucker und damit perfekt geeignet ist die Giraffe als Tier. Denn sie fällt auf und in der Regel haben die meisten eine positive Einstellung diesem liebenswerten Tier gegenüber. Kaum jemand wird wohl sagen: „Igitt! Schau mal da: Eine Giraffe!“

recall Wie lässt sich im Rahmen der Teamarbeit ausgerechnet eine Giraffe als Expertin zurate ziehen?
Nadja Matysiak Nun, wer schon einmal das Glück hatte, eine Giraffe live im Zoo, Tierpark oder auf Safari zu beobachten, dem wird aufgefallen sein, wie sie gelassen mit viel Bodenhaftung durch das Gelände schreitet. Mal im Bild gesprochen: In der Ruhe liegt die Kraft. Wenn wir in uns ruhen und ganz in unserer Mitte sind, wird sich das positiv auf unsere Kommunikation im Team auswirken.

Ein Beispiel: Selbst eine schräge Bemerkung der Kollegin wird mich nicht völlig aus der Bahn werfen. Im besten Fall gelingt es mir sogar auf Sie zuzugehen und nachzufragen: „Hey, ich habe den Eindruck dir geht es gerade nicht gut, wo drückt denn der Schuh?“ Kommen wir zum auffallend langen Hals, der es vermag, den Kopf ganz schnell in unterschiedliche Höhen zu bringen. Um wieder im Bild zu bleiben: Der Hals ermöglicht der Giraffe, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Dieses Prinzip ist besonders hilfreich in Konfliktsituationen. Erst einmal einige Schritte zurückgehen und sich Überblick verschaffen über die Situation. Im zweiten Schritt dann gewillt sein, sich auf einen Perspektivwechsel einzulassen: „Warum handelt die Kollegin so? Welches Bedürfnis könnte dahinterstecken?“

Und noch etwas: Giraffen kommunizieren in tiefen Tönen untereinander per Infraschall. Für uns Menschen nicht wahrnehmbar, da die Frequenz unter 16 Hertz liegt. Mich fasziniert das! Denn in der nonverbalen Kommunikation kommt es ja auch gelegentlich vor, dass wir zwar etwas aussenden, es aber gar nicht oder völlig anders verstanden wird. Ein typisches Beispiel: Jemand runzelt die Stirn. Aus Skepsis oder aus einer Haltung der Konzentration heraus? Es bleibt immer ein gewisser Interpretationsspielraum offen, solange wir uns nicht erklären.

recall Ihre Giraffen-Marke nennt sich nun „Roberta“. Wie erklärt sich das?
Nadja Matysiak Eines Tages bereitete ich Unterlagen für Teilnehmer eines Workshops vor. In diesem kreativen Moment entwickelte sie sich und ist seitdem aus meiner Arbeit nicht mehr wegzudenken. Das war sozusagen die Geburtsstunde von Roberta: Irgendwo zwischen Laptop und Flipchart. Die Illustratorin Carina Riebroek hat dann aus meinen ersten Skizzen eine gelungene Grafik erstellt. Und zum Namen: Er sollte irgendwie frech und “merk”-würdig sein – also des Merkens würdig. Ursprünglich geht der Name auf das Althochdeutsche zurück und bedeutet so viel wie „die ruhmreich Glänzende“. Das gefiel mir.

recall Unserer Leserschaft fallen sofort die Flecken auf – sie sind untypisch bunt. Was steckt dahinter?
Nadja Matysiak Die Flecken in Blau, Rot, Gelb und Grün stehen für die vier verschiedenen Typen, die letztlich auf die  Temperamentenlehre von Hippokrates zurückgehen. Das bedeutet: Wenn wir wissen, welcher Typ wir sind und welchem Typus die  einzelnen Praxismitglieder angehören, dann wird uns dieses Wissen dabei helfen, uns auf die Eigenschaften und Macken unserer Kollegin oder dem Chef einzustellen. Es wird uns leichter fallen, die Art und das Verhalten unseres Gegenübers besser zu durchschauen und einen milderen Blick darauf zu haben. Die Auseinandersetzung mit dem Temperament weitet also den eigenen Horizont und lässt uns entspannter und vor allem typgerechter kommunizieren.

Ein Beispiel: In Zimmer 1 fällt die Einheit komplett aus. Kurze und knappe Infos dazu will der rote Typ. Etwas ausführlicher und nüchtern sollte es dem Blauen vorgetragen werden.

recall Roberta hat insgesamt vier Ohren?
Nadja Matysiak Ja, genau. Denn vier Ohren hören nun mal mehr als zwei. Das genaue Hinhören spielt bei Roberta eine ganz wesentliche Rolle. Hören wir hin, um zu verstehen, oder um sofort unser Gegenüber von unserer unumstößlichen Meinung zu überzeugen? Die felligen Lauscher können auch als Sinnbild für Fragen verstanden werden: Wie geht es mir eigentlich grad? Was brauche ich persönlich oder hätte ich mir gewünscht?

recall Haben Sie noch einen letzten Roberta-Tipp für uns?
Nadja Matysiak Ja, gern: Schenkt dem Ernst des Lebens ab und zu ein ‘giraffisches’ Augenzwinkern.

Frau Matysiak, endlich konnten wir die Rätsel um Roberta lösen. Vielen Dank für die aufschlussreichen Hintergründe!

Recall Magazin